Samstag, 13. August 2016

Gedanken zur Türkei

Im Getränkemarkt

Heute im Getränkemarkt gab es eine neue Bedienung. Eine Dame mittleren Alters, die ein blaues Kopftuch trug. Und zwar in der Art, wie es türkische Frauen zu tragen pflegen. Nur das blau war ein wenig auffällig. Ich weiß nicht ob das eine Bedeutung hat, aber es könnte so etwas wie ein politisches Statement sein. Wie auch immer, das ist nur eines der vielen Zeichen, die derzeit eine Veränderung anzeigen.

Ich glaube früher hätte die Frau an der Kasse kein Kopftuch getragen, inzwischen ist es ihr offensichtlich ein Bedürfnis. Dabei handelte es sich mit Sicherheit um eine Person die schon ziemlich lange in Deutschland lebt, denn ich konnte bei den paar Worten die wir gewechselt haben (23 Euro 95, Danke, Möchten Sie den Kassenzettel) kaum einen Akzent feststellen. Damit ist aber auch klar, dass es sich hier um eine Abgrenzung handelt: Seht her, ich bin eine Türkin und stolz drauf. Und damit stellt sich die Frage, warum das und warum jetzt?

Herr Broder hat die letzten Tage in einem Interview festgestellt, dass die Integration der Türken in Deutschland gescheitert ist. Ist sie das wirklich? Wenn wir uns mal in einem klassischen Einwanderungsland umsehen, z.B. den USA, dann erkennt man, dass dort jede Einwanderergruppe sich sowohl als Amerikaner als auch als Italiener, Iren oder sogar Deutsche fühlt (die letzteren bedingt durch zwei Kriege etwas versteckter)

Früher hätte die Bedienung versucht sich zu assimilieren um nicht als Türkin aufzufallen, was gleichbedeutend mit einer gewissen Rückständigkeit und Armut war. Immerhin war das der Grund für viele Türken nach Deutschland zu kommen. Und es kamen die aus den tatsächlich eher unterentwickelten Regionen des Landes und natürlich nicht - oder nur selten - die Vertreter einer stets vorhandenen urbanen Kultur, die Elemente aus dem untergegangenen osmanischen Reich mit in die Moderne brachte. Nach über 50 Jahren in Deutschland und zweifellosen Fortschritten im Heimatland (von denen einige derzeit wieder zurück gedreht werden) sind diese Menschen es leid immer weiter auf eine Teilhabe in unserer Gesellschaft zu warten. Und sie tun das, was Menschen in Ihrer Situation schon immer getan haben: Sie mache ihr Ding, so wie sie das für richtig halten.

Wer glaubt, dass unsere Gesellschaft das nicht aushalten kann, hat wenig vertrauen in deren Dynamik. Zu wenig. Wie bitteschön hatten wir uns denn die Integration vorgestellt? Sollte ein Türke es anstreben in einer Zwei-Kind-Familie ein Reihenhaus zu beziehen? Oder in Lederhosen und Gamsbarthut den Schuhplattler geben? Schützenvereine frequentieren und um die Königswürde ballern? Sicher werden sich für alle diese Fälle Beispiele finden. Meine türkischen Nachbarn haben sich aber für die Familie ein Dorfhaus gegenüber gekauft und wohnen mit der Großfamilie darin.

Als ich vor einigen Jahren Klassentreffen hatte erzählte ein Klassenkamerad über seine seltsame Beziehungskiste mit seiner Frau und deren Freund, der auch noch im Haus wohnte. Jeder dachte sich seinen Teil, aber Aysun war die einzige, die das auch formulierte und laut fragte, was er sich dabei eigentlich denke und das es so ja wohl nicht ginge. Meine Großmutter hätte ebenso reagiert.

Meine Großmutter ist übrigens noch jeden Sonntag mit einem Kopftuch in die Kirche gegangen. Da erscheint es mir sehr seltsam, dass es Heute eine Partei gibt, die einerseits die sechziger Jahre wieder zurück haben und andererseits meiner Bedienung im Supermakrt das Kopftuch verbieten will.

Also, meine lieben Christen, ich glaube unsere Gesellschaft ist stark genug diese Kopftücher auszuhalten bis zu dem Tag an dem wir wichtigeres zu tun haben als uns über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Migrantengruppen und den "Alteingesessenen" zu erregen. Wo letztere diesen Status meist auch nur seit weniger als 200 Jahren inne haben.

Türkische Geschäfte

Erst letzte Woche hatte ich es beruflich mit einigen türkischen Geschäftspartnern zu tun. Zu solchen Gelegenheiten schlage ich immer zwei Termine vor. Dabei vermeide ich Freitage, da viele meiner Kontakte auch aus muslimischen Ländern und Israel kommen, für die das bekanntlich bereits das Wochenende ist. Nicht so letzte Woche mit den Türken. Als wir uns also per Telefon trafen, viel mir auf, dass die Kollegen einigen Aufwand getrieben hatten um meinen Donnerstagstermin zu erfüllen. Daraufhin fragte ich nach um mich zu Entschuldigen, dass ich eventuell in deren Wochenende geplant hatte. Das wiesen die jungen Leute aber sogleich von sich mit den Worten: "Wir gehören nicht zum Nahen Osten, wir sind Europäer."

Ob diese das Selbstverständnis einer Mehrheit in der Türkei ist kann so eine Anekdote natürlich nicht beweisen, zumal es sich um eine Gruppe junger Leute aus der IT Branche handelte, die normalerweise eher international orientiert sind. Aber es wurde wenigstens mit Überzeugung vorgebracht.

Die Türkei und die EU

Damit wären wir bei der Frage der EU-Mitgliedschaft für die Türkei, die ja in letzter Zeit schwer gelitten hat. Mit Sicherheit muss jetzt erst einmal abgewartet werden was da eigentlich passiert und wie es weitergeht. Allerdings stößt es mir sehr schwer auf, dass jetzt natürlich genau diejenigen laut nach einer Beendigung der Verhandlungen rufen, welche die Türkei noch nie als Teil von Europa gesehen haben und deshalb auch nicht als EU Mitglied wollen. Für mich ist das ein gewaltiger Fehler. Es ist eine Sache die Türkei und ihre Menschen zum europäischen Kulturkreis zu zählen oder nicht. Jeder, der das aber überhaupt nicht einsehen kann und deshalb meint ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen zu müssen, müsste aber trotzdem einen wichtigen Punkt einsehen:  
Die Türkei wird in Zukunft entweder das Tor des Nahen Ostens nach Europa sein oder Europas Tor zum Nahen Osten. 
Ich glaube Dieser Satz macht in aller Kürze klar was die Konsequenzen für die europäische Sicherheitspolitik sind. Zukünftige Generationen werden entweder von Europa aus über die Türkei bis in die arabischen Staaten und den Kaukasus wirken können oder dasselbe wird umgekehrt passieren. Wer seine fünf Sinne beisammen hat und die Entwicklung in diesen Regionen beobachtet kann kaum wünschen, dass letzteres der Fall sein wird.